Chorsingen mit Sehbehinderten ist einfacher, als man zunächst vermuten mag. Da eine Sehbehinderung keine Blindheit ist, genügt es häufig, mit vergrößerten Noten zu arbeiten oder die Personen beim Nutzen ihrer eigenen technischen Hilfsmittel zu unterstützen.
Sowohl bei Sehbehinderten als auch bei Blinden ist das Gehör gut ausgeprägt und eine große musikalische Sensibilität vorhanden. Blinde haben zudem ein gutes Erinnerungs- und damit Auswendiglern-Vermögen. Daher fügen sie sich sehr gut in einen Chor ein und musikalische Ansagen oder Prozesse werden von ihnen sogar länger erinnert als von ihren sehenden Mitsänger:innen.
Unterstützungsmöglichkeiten und Kompensationsstrategien
Das Dirigat nehmen Blinde und Sehbehinderte meistens kaum wahr – hier gibt es jedoch viele Unterstützungsmöglichkeiten sowie Kompensationsstrategien. Zum einen wird das Einatmen der Leitung und der Mitsänger:innen vor einem Einsatz wahrgenommen. Zum anderen kann laut oder mit Berührung durch eine Nachbarperson eingezählt werden. Durch das geschulte Erinnerungsvermögen sind Tempi sowie Übergänge im Konzert dann auch ohne Angaben klar. Beim Singen mit Noten – egal ob von Papier oder vom elektronischen Notizgerät – trägt ein Notenständer zu einer entspannteren und singgerechteren Haltung bei. Sehbehinderten helfen darüber hinaus oft verbesserte Lichtverhältnisse etwa durch Klemmleuchten and der Mappe/dem Notenständer oder durch Singen von einem Tablet.
Daher gilt: Die sehbehinderten/blinden Kinder und Jugendlichen bzw. ihre Eltern ansprechen und fragen, wie man sie beim Singen unterstützen kann, welche Bedingungen ihnen helfen und welches Material man wie zur Verfügung stellen kann. Und sie auch ermutigen, sich bei Schwierigkeiten zu melden – dafür kann man beispielsweise eine Bezugsperson (z.B. der/die Chornachbar:in) aussuchen. Hilfreich ist außerdem, dem Chor generell und insbesondere der jeweiligen Stimmgruppe zu erklären, wie sie auf die blinde oder sehbehinderte Person achten und sie unterstützen können. Zusätzlich können diese Materialien dabei helfen (auch um als Leitung Blindheit und Sehbehinderung besser zu verstehen).
Noten und Werte im Braille-System ©Cristinacubellsperez (Lizenz)
Stücke lernen und die Braille-Notenschrift
Für das Lesen und Lernen von Stücken gibt es eine Blindennotenschrift, die – wie die Textschrift – von Louis Braille entwickelt wurde. Sie ist deutlich komplexer als die Textschrift und ist daher im Amateurmusikbereich noch wenig geläufig. Einfachere Stücke können noch gut über vorsingen/nachsingen bzw. zuhören/mitsingen in der Probe oder mithilfe von Smartphone-Aufnahmen bzw. Übedateien zu Hause gelernt werden (auch schon vor der ersten Probe). Im Gegensatz zu Instrumentalist:innen haben Sänger:innen jedoch den großen Vorteil, dass die Hände frei sind und sie gleichzeitig lesen und singen können. Daher lohnt sich das Lernen der Blindennotenschrift für sehbehinderte und blinde Chorsänger:innen, die ein mittleres bis anspruchsvolleres Niveau anstreben – insbesondere auch wegen der Komplexität und Länge von Stücken wie z.B. einer Kantate oder einem Oratorium. Da in der Braille-Schrift Text und Noten voneinander getrennt notiert stehen, ist jedoch zu berücksichtigen, dass das Wort-Ton-Verhältnis eines Stückes in der Regel immer auswendig gelernt werden muss, weil Noten mit Text – wenn überhaupt – nur von sehr Fortgeschrittenen mit rechter und linker Hand gleichzeitig gelesen werden können.
Braille-Notenschrift lernen
Um als Kind oder Jugendliche:r die Notenschrift zu lernen, kann einer der Kurse des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DSBV) belegt werden, die auch für Sehende offen sind (Grundkenntnisse in der Textschrift werden jedoch benötigt). Darüber hinaus existiert eine Klavierschule zum Lernen der Blindennotenschrift, mit der auch sehende Klavierlehrer:innen unterrichten können. Wer sich das System selbst aneignen möchte, kann das auch mit dieser Website oder diesem Online-Handbuch tun.
Notenmaterial
Beim Deutschen Zentrum für barrierefreies Lesen (dzb) gibt es viele in Braille-Notenschrift übersetzte Chorwerke, die kostenlos ausgeliehen oder gekauft werden können. Darüber hinaus existiert übersetztes Notenmaterial für viele Instrumente wie z.B. Orgel, Klavier, Gitarre oder Geige. Wer dort nicht fündig wird, kann einfach eine Übersetzung in Auftrag geben oder sich an Kantorin Bernadette Schmidt () der Fachgruppe Musik des DSBV wenden. In der Fachgruppe sind einige blinde und sehbehinderte Kantor:innen und Sänger:innen vertreten, die sich für Ihre eigene Arbeit schon viel Notenmaterial transkribiert haben und gerne weiterhelfen.
Bewegungen und Solmisation
Choreografien, Bewegungen und Solmisation oder Ward-Methode sind selbstverständlich auch mit blinden Kindern möglich. In der Einstudierung von Bewegungen sollte das Kind hier nicht nur über Worte, sondern am besten über Berührung die Bewegung oder Position nachvollziehen lernen, dabei können z.B. Chornachbar:innen helfen. Wer als Leitung bei der Solmisation und Ward-Methode für alle gleichzeitig anzeigen möchte, kann die Kinder im Kreis aufstellen mit dem blinden Kind neben sich und die Handfläche des Kinds berühren bzw. Handhöhen vorgeben.
Musikprojekte
Blindheit und Sehbehinderung können auch zum Thema eines Musicalprojekts werden, etwa mit den Musicals „Louis Braille und die 6 Richtigen“ und „Wonderful – Besonders. Gut.“ des BZVS/der Louis-Braille-Schule Lebach oder mit „Stärker als die Dunkelheit“ des DBSV. Weitere Musikprojekte sind etwa die Dunkelkonzerte der Band Blind Audition oder der Low Vision Song Contest des DBSV. Im Jugend-Musikclub des DSBV gibt es außerdem verschiedene Angebote für musizierfreudige sehbehinderte Kinder und Jugendliche wie z.B. inklusive Workshops und Camps.
Kulturelle und soziale Teilhabe
Da blinde und sehbehinderte Kinder und Jugendliche häufig eine spezielle Schule besuchen, sind ihre Schulfreund:innen oft über ein großes Einzugsgebiet verteilt. Umso hilfreicher ist es für die Kinder und Jugendlichen, einem Hobby wie dem Chor an ihrem eigenen Wohnort nachgehen und auch dort Freundschaften knüpfen zu können. Darüber hinaus ist die Musik einer der wenigen Kulturbereiche, der nahezu normal erfahren werden kann und aus dem später sogar ein Beruf werden kann. Um Blinde und Sehbehinderte in den Chor einzuladen, kann man dies auch explizit in z.B. Chorflyern und auf der eigenen oder der Gemeinde-Website erwähnen. Zusätzlich hilft es, die Website barrierefrei zu gestalten.
Finanzierung
Für einen Website-Umbau, für andere nötige Hilfsmittel in der Chorarbeit, aber auch für jegliche inklusive Musikprojekte mit blinden und sehbehinderten Sänger:innen gibt es Fördermittel, die z.B. bei Kunst und Kultur für alle, bei #1Barriereweniger oder bei Musik für alle! beantragt werden können.
Kirchenalltag
Weitere Einblicke in das Thema Sehbehinderung im Kirchenalltag gibt folgendes Video und die Aktion des Sehbehindertensonntags:
Mit herzlichem Dank an Bernadette Schmidt von Mariä Himmelfahrt Schirgiswalde, Isabell Spindler von der Louis-Braille-Schule Lebach und Reiner Delgado vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband.